Prof. Dr. Dr. h.c. Joachim Starbatty
Mitglied des Europäischen Parlamentes
Prof. Dr. Dr. h.c. Joachim Starbatty verdeutlicht der Bundeskanzlerin warum die Eurokrise bald wieder auf dem europäischen Spielplan stehen wird und es keiner der aktuellen politischen Akteure schaffen wird “Wasser bergauf fließen zu lassen”.
Er schreibt über die Austerity-Politik in der Eurozone, Arbeitslosigkeit und steigende Gesamtverschuldung, nimmt Bezug auf die EZB und deren Präsident Draghi, die Scheinblüte der Wirtschaft durch eine Immobilienblase und die Folgen der Nullzinspolitik der EZB.
Ein offener Brief an die Kanzlerin
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Sie haben in Ihrer Ansprache an die Nobelpreisträger erklärt, dass die Einführung des Euro trotz aller Probleme eine Erfolgsgeschichte sei. Sie haben die Botschaft übermitteln wollen, dass die von Ihnen zu verantwortende Austerity-Politik in der Eurozone – auf gut deutsch, den Gürtel noch ein Loch enger zu schnallen – notwendig und richtig sei. Es gebe auch erste Früchte: Die Produktivität steige wieder, die Leistungsbilanzdefizite gingen zurück und Haushaltsdefizite würden abgebaut; die Rettungsprogramme hätten überdies Sicherheiten für die Schuldnerländer geschaffen.
Schauen wir uns die Früchte genauer an. Die Arbeitslosigkeit im Euroraum (ohne Deutschland) ist von 7,1 im Jahre 2007 auf 14,3 Prozent im Jahre 2013 gestiegen. Damit geht statistisch ein Produktivitätssprung einher, weil Betriebe und Arbeitsplätze mit geringerer Produktivität vom Markt verschwinden. Wenn deswegen Länder verarmen, importieren sie weniger und die Leistungsbilanzdefizite gehen zurück. Die deutsche Exportindustrie bekommt das bereits zu spüren. Seit Beginn der Eurokrise im Jahre 2009 ist der Exportanteil der Eurozone von 43,3 auf 36,8 Prozent zurückgegangen.
Bemerkenswert ist überdies, dass seit Beginn der Währungsunion der Anteil der Exporte in die Euro-Staaten kontinuierlich von 45,4 (2000) auf 36,8 Prozent (2013) geschrumpft ist, während er in die Drittstaaten in demselben Zeitraum von 35,3 auf 43,1 Prozent gestiegen ist. Wegen steigender Arbeitslosigkeit und hartnäckiger Rezession ist in den notleidenden Schuldnerländern die Steuerbasis weggebrochen; daher konnten sie ihre Haushaltsdefizite nicht unter die geforderten 3 Prozent drücken, stattdessen steigt ihre Gesamtverschuldung unaufhörlich.
Nehmen wir die entscheidenden makroökonomischen Variablen – Arbeitslosigkeit, Gesamtverschuldung und Abwertungsbedarf – so stehen die Schuldnerländer heute schlechter da als bei Ausbruch der Eurokrise.
Die Akteure auf den Finanzmärkten sind noch nicht beunruhigt, weil die Rettungsprogramme und die Zusicherung von EZB-Präsident Draghi, im Falle eines Falles Staatsanleihen aus dem Markt zu nehmen, wie eine Bürgschaft wirken.
Wird die Eurozone als eine Schicksalsgemeinschaft wahrgenommen, so kaufen Finanzakteure mit dem Billigstgeld der EZB Staatsanleihen notleidender Schuldnerländer, zumal sie dieses Engagement nicht mit Eigenkapital unterlegen müssen. So zahlen die Euro-Länder inzwischen geringere Zinsen als vor Ausbruch der Eurokrise, und die Banken können wieder satte Boni ausschütten.
Frau Bundeskanzlerin, Sie werden vermutet haben, dass die Austerity-Politik, die Sie den Schuldnerländern aufgezwungen haben, heftig kritisiert werden dürfte. Sie haben deshalb zu erläutern versucht, dass Sie in Deutschland Haushaltskonsolidierung und Wachstum recht gut miteinander in Einklang gebracht und auch die Beschäftigung kräftig gesteigert hätten. Sie unterschlagen dabei, dass auch Irland und Spanien, die inzwischen Mittel aus den Rettungsschirmen in Anspruch nehmen mussten, vor dem Platzen der Immobilienblase hohe Haushaltsüberschüsse hatten.
So ist in Irland die öffentliche Gesamtverschuldung von 34,5 (4. Quartal 2001) auf 24,9 Prozent (4. Quartal 2007) zurückgegangen, in Spanien in demselben Zeitraum von 55,6 auf 36,9 Prozent. Was war die Ursache hierfür? Während der Jahre 2002 bis 2007 war der Realzins – Refinanzierungssatz der EZB unter Berücksichtigung des Preisanstiegs für den privaten Verbrauch – in beiden Ländern negativ. Dies hat einen unvorstellbaren Bauboom angestoßen. Die sprudelnden Steuerquellen haben den Regierungen ohne eigenes Dazutun hohe Haushaltsüberschüsse verschafft.
Das war aber bloß eine Scheinblüte. Nach Platzen der Immobilienblase und der Notwendigkeit der Regierungen, ihre Banken vor dem Kollaps zu bewahren, ist die Gesamtverschuldung in Irland auf 124,3 Prozent und in Spanien auf 93,3 Prozent hochgeschossen. Eine vergleichbare Entwicklung spielt sich gerade in Deutschland ab. Auch bei uns ist der Realzins seit dem Jahre 2010 stark negativ; er hat die Konjunktur angeschoben, die Baukonjunktur befeuert und die Steuerquellen sprudeln lassen.
Die Rückbildung der Staatsdefizite ist also nicht haushälterischer Sorgfalt zu verdanken, sondern der Nullzinspolitik der EZB, die sich nicht nach der konjunkturellen Notwendigkeit Deutschlands richtet, sondern den Euroraum zusammen halten will.
In einem heterogenen Währungsraum gilt eben nicht, “one size fits all”, sondern “one size fits none”. Diese Scheinblüte hat Sie und Ihre Regierung verleitet, dem Staatshaushalt eine Hypothek von 230 Milliarden Euro aufzubürden, die vor allem die junge Generation abzutragen hat. Das wird Ihnen bald auf die Füße fallen.
Frau Bundeskanzlerin, Sie sprachen die Wettbewerbsfähigkeitskrise der Eurozone an. Eine solche Krise gibt es für Deutschland nicht. Der Einheits-Euro ist für Deutschland unterbewertet, für die südlichen Länder dagegen überbewertet. Investitionen für ein nachhaltiges Wachstum, das der einheimischen Jugend die Auswanderung ersparen würde, bleiben aus. Unser Exportüberschuss hingegen ist nicht bloß ein Stein des Anstoßes innerhalb der Eurozone, sondern auch international.
Seit Gründung der Europäischen Währungsunion ist der deutsche Leistungsbilanzsaldo in Prozent des Bruttoinlandsprodukts kontinuierlich von einem Defizit in Höhe von 1,7 (2000) auf einen Überschuss von 7,5 Prozent (2013) angestiegen. Auch der Anteil der Exporte (Waren und Dienstleistungen) am Bruttoinlandsprodukt ist von 33,4 (2000) auf 50,6 Prozent (2013) gestiegen. Wir stellen der Welt immer mehr Güter und Dienstleistungen zur Verfügung und holen uns dafür Beschäftigung ins Land. Der führende Ökonom des zwanzigsten Jahrhunderts, John Maynard Keynes, nannte eine Politik, über eine unterbewertete Währung die einheimische Beschäftigung zu steigern, “beggar-thy-neighbour-policy – den Nachbarn zum Bettler machen”.
Frau Bundeskanzlerin, der maßgebliche Konstruktionsfehler des Wirtschafts- und Währungsraums ist für Sie die politische Schwäche, etwas zu beschließen und danach gleich wieder infrage zu stellen: „Wir haben sehr wenig wirtschaftspolitische Koordinierung und schon gar keine verpflichtende und sanktionierte Möglichkeit, bei Nichteinhaltung der eigenen Versprechen in irgendeiner Weise belangt zu werden.“ Damit haben Sie zugleich ein vernichtendes Urteil über Ihre Politik gefällt.
Immer wieder ist auf Euro-Gipfeln über Haushaltssperren diskutiert und gestritten worden. Sie hätten sich, so wurde dem interessierten Publikum vermittelt, schließlich durchgesetzt. Jetzt geben Sie im Grunde zu: Es war für die Katz. Trotz dieser Erfahrungen geben Sie Ihre Hoffnung nicht auf: „Das muss in der Zone mit einer gemeinsamen Währung verbessert werden.“
Sie sind stolz darauf, dass Ihnen bei der Behebung der Schwäche des europäischen Bankensystems ein wirklicher Quantensprung gelungen sei. In welche Richtung? Sie streichen die klare Haftungskaskade heraus. Wenn die nationalen Gewährsleistungsträger überfordert sind und ein Euroland vor dem Kollaps steht, dann muss die Schicksalsgemeinschaft einspringen, gleichgültig, welche Höchstgrenzen vereinbart wurden. Wenn Sie ein Ausscheiden einzelner Länder aus der Eurozone unter allen Umständen verhindern wollen, muss Deutschland die finanziellen Konsequenzen tragen.
Frau Bundeskanzlerin, für die Nobelpreisträger ist Ihre Rede zur Europapolitik eine einzige Katastrophe gewesen.
Einem Land, das bereits am Boden liege, mit weiteren Strafmaßnahmen zu drohen, hielten sie für keine gute Idee. Ein Auseinanderbrechen der Eurozone sahen sie dagegen als Chance, das wirtschaftlich lahmende Europa wieder in Schwung zu bringen. “Die Kosten für den Zusammenhalt dürften langfristig die Kosten für ein Auseinanderbrechen bei Weitem überschreiten“, sagte James Mirrlees.
Die Eurokrise wird bald wieder auf dem europäischen Spielplan stehen; wir werden sehen, dass sich die politischen Akteure an dem Versuch abarbeiten, Wasser bergauf fließen zu lassen. Frau Bundeskanzlerin, der angerichtete Schaden ist bereits groß genug. Lassen Sie ihn nicht noch größer werden.
Mit freundlichen Grüßen
Joachim Starbatty
Brüssel, den 4. September 2014