Professor em. Dr. Dr. h.c. Joachim Starbatty, MdEP
Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der AfD
Liebe Mitstreiter,
wir erleben merkwürdige Zeiten.
(1) In der Sendung des Bayerischen Fernsehens „Jetzt red i“ (15. Oktober 2014) habe ich gesagt, was ich als Hochschullehrer seit 50 Jahren in meinen Vorlesungen und auch öffentlich vortrage: Freihandel ist wohlfahrtssteigernd und internationale Schiedsgerichte können nationale Regierungen von Entscheidungen abhalten, die nationale wie internationale Investitionstätigkeit belasten oder sogar zum Erliegen bringen. Es gab immer Zustimmung. Doch jetzt haben diese Aussagen einen Sturm an Entrüstung und Widerspruch provoziert.
(2) Aber diese Reaktion ist nicht nur bei uns zu beobachten. In einer
Informationsveranstaltung des Europäischen Parlaments hat ein britischer Abgeordneter berichtet, dass bei ihnen „monstrous scare stories“ – monströse Panikmache – die Diskussion zu TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) beherrschen. So glauben die Briten, dass ihr zwar wenig effektives, aber geliebtes Gesundheitssystem für TTIP geopfert werde. Ein Referent aus den USA berichtete, dass US-Amerikaner über 50 Jahre fürchten, ihren Job zu verlieren. Wenn in grundsätzlich freihändlerisch eingestellten Ländern solche Befürchtungen herrschen, wie aufgebracht muss dann die Stimmung in den Ländern sein, die im Freihandel traditionsgemäß eine Bedrohung für die nationale Beschäftigung sehen?
(3) In meiner Entgegnung kann ich natürlich nicht auf alle Ein- und Vorwürfe eingehen und auch nicht alle Ratschläge würdigen. Sie gibt auch nicht die Meinung des Vorstands der „Alternative für Deutschland“ oder die Haltung der AfD-Mitglieder im Europäischen Parlament wieder. Sie ist allein Ausdruck meiner persönlichen Einstellung. Der Wissenschaftliche Beirat der AfD wird auf seiner Sitzung am 30. Oktober 2014 eine Stellungnahme vorbereiten, die breiter fundiert ist und Ihnen sobald als möglich zugehen wird. Sie kann dann die Grundlage für einen innerparteilichen Klärungsprozess sein. Ich sehe die Reaktionen auf mein Interview als Ausdruck einer lebendigen innerparteilichen Diskussionskultur.
(4) Ich rufe noch einmal in Erinnerung, dass gerade Deutschland einer der größten Nutznießer des weltweiten Freihandels ist. Der deutsche Anteil am weltweiten Exportvolumen liegt über 9 Prozent; dieses Jahr wird unser Exportüberschuss knapp 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen; der Anteil der Exporte am Bruttoinlandsprodukt ist von 37 Prozent im Jahre 2000 auf über 50 Prozent angestiegen. Die steigende Ausfuhr in die Drittstaaten nach der Weltfinanzkrise (2008) hat unsere Arbeitslosigkeit von ca. 9 Prozent auf etwas über 5 Prozent reduziert und bei uns die Steuerquellen sprudeln lassen. Das wissen wir alle, werden Sie sagen. Wir sind auch nicht gegen den Freihandel an sich. Aber es ist doch wichtig, sich dessen immer bewusst zu sein. Steine des Anstoßes sind:
– die Ausgestaltung der nicht-tarifären Regeln und Normen insbesondere für den Export und Import von Nahrungsmitteln und die Behandlung von Sozialstandards,
– die Schiedsgerichtsverfahren, die den Primat der Politik betreffen,
– die Geheimniskrämerei bei den Vertragsverhandlungen.
(5) Ein Teil der nicht-tarifären Streitpunkte lässt sich durch eine Kennzeichnungspflicht lösen – Stichwort „Chlor-Hühnchen“. Doch habe ich den Eindruck, dass oft mit zweierlei Maß gemessen wird: Bei uns wird Farmlachs ohne Beanstandung verkauft und verzehrt, obwohl die Belastungen für Umwelt und Konsum aufgrund der Aufzuchtmethoden erheblich sind. Doch gebe ich den Kritikern recht, als man schon genau hingucken muss. Sozialstandards sind dagegen insofern nicht durch TTIP betroffen, als sie Lohnbestandteile sind und durch die nationale Produktivität bestimmt werden.
(6) Die Schiedsgerichtsverfahren stehen zu recht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Die Reduzierung tarifärer und nicht-tarifärer Handelshemmnisse werden Wohlstandsgewinne bringen, entscheidend ist aber, dass über TTIP binnenmarktähnliche Verhältnisse geschaffen werden sollen. Für ausländische Investoren ist der europäische Binnenmarkt mit mehr als 500 Millionen kaufkräftiger Konsumenten interessant, und für unsere Investoren gilt Entsprechendes für den US-amerikanischen Markt und den dort möglichen Freiverkehr mit Kanada und Lateinamerika. Wenn aber Unternehmer erhebliche Summen investieren und somit Arbeitsplätze schaffen, wollen sie die Risiken ihres Engagements überschaubar halten. Für einen Ökonomen ist das verständlich. Rechtsunsicherheit ist ein ernsthaftes Investitionshemmnis. Der mittelalterliche Handelsverbund, die Hanse, blühte auf und brachte Wohlstand, weil sich die beteiligten Städte auf die Anwendung des Lübecker Rechts geeinigt hatten. Daher wusste jeder Handelsherr, dass er sich in jeder Hansestadt auf ein identisches Recht stützen konnte. Entscheidend sind die vereinbarten Spielregeln: Ort, Besetzung und Verfahren. Und nun fürchten viele, dass unsere Verhandler über den Tisch gezogen werden. Dass die Vertragsparteien auf den nationalen Vorteil achten, ist offensichtlich. Aber den Experten dürfte das nicht verborgen bleiben und dann können sie mit dem Pfund wuchern, dass der europäische Binnenmarkt der weltweit ertragreichste ist.
(7) Für viele ist unverständlich und nicht akzeptabel, dass nationale Regierungen vor internationale Schiedsgerichte vorgeladen werden. Hier gibt es wohl einen echten Dissens. Die Gegner von TTIP sehen den Primat der Politik gefährdet. Für den Ökonomen ist entscheidend, dass auch Regierungen unter dem Recht stehen und ihre Politik so gestalten, dass Unternehmer auf lange Sicht planen können; denn nur dann werden Investitionen getätigt, die dauerhaft Arbeitsplätze schaffen und sichern. Einer der Väter der Sozialen Marktwirtschaft, Walter Eucken, hat die „Konstanz der Wirtschaftspolitik“ zu den Prinzipien gezählt, die eine Marktwirtschaft dauerhaft konstituieren. Vor mehr als 60 Jahren hat er geschrieben – und das ist heute so gültig wie damals: „Die nervöse Unrast der Wirtschaftspolitik, die oft heute verwirft, was gestern galt, schafft ein großes Maß von Unsicherheit und verhindert – zusammen mit den verzerrten Preisrelationen – viele Investitionen. Es fehlt die Atmosphäre des Vertrauens.“
(8) Inzwischen reagiere ich auf den Einwurf, der „politische Primat“ sei entscheidend, aus Erfahrung mit höchster Skepsis. Zu oft sind mit diesem Satz politische Entscheidungen gerechtfertigt worden, die keine ökonomische Basis hatten. Ich habe mir das anhören müssen, als Helmut Kohl und François Mitterand die Schaffung der Währungsunion, in Wirklichkeit die Abschaffung der D-Mark, beschlossen haben, ohne dass sichergestellt war, dass die beteiligten Regierungen sich an eine gemeinsame Marschroute hielten. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Wolfgang Schäuble haben die „no bail out-Klausel“, die die nationale Verantwortung für finanzielle Verpflichtungen vertraglich festgeschrieben hatte, vom Tisch gewischt und damit Deutschland in eine Haftungsgemeinschaft mit unübersehbaren finanziellen Konsequenzen für die Bürger gezwungen. Es würde unserer gemeinsamen Sache dienen, wenn wir klären könnten, ob, wann und wie der politische Primat mit dem notwendigen Vertrauensschutz für nationale und internationale Investoren in Übereinklang gebracht werden könnte. Dabei wäre natürlich auch zu prüfen, was im Einzelnen unter Investitionen zu verstehen ist und wie sie im einzelnen zu behandeln sind.
(9) Die Forderungen nach Transparenz sind berechtigt und sogar notwendig. Transparenz ist eine notwendige Voraussetzung für die Kontrolle der Regierungen durch die Regierten und damit die Basis für das Vertrauen in einer demokratischen Gesellschaft. Die bisherige Praxis der Verhandlungsführung, die an Geheimniskrämerei erinnert, hat das Misstrauen gerade geschürt. Doch ist erstaunlich, dass wir alle auf einem Auge blind sind. Die Entscheidungen in der Währungsunion – der Bruch der „no bail out-Klausel“, die Einrichtung einer „Zweckgesellschaft nach Luxemburger Recht“ zur Abwicklung der finanziellen Hilfen, die Etablierung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und die Entscheidungen der Europäischen Zentralbank zum Ankauf von Staatsanleihen und Schrottpapieren – vollziehen sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die zugrundeliegenden Gesetzestexte sind nicht von nationalen Administrationen und Parlamenten im Benehmen mit der Bevölkerung entwickelt und initiiert worden, sondern in angelsächsischen Kanzleien erdacht und ausformuliert worden. Es ist erstaunlich, dass unsere Regierungen und Abgeordneten das finanzielle Schicksal der Bürger Europas ausländischen Anwälten und Experten überlassen haben, weil sie mit dieser Materie überfordert waren. Das ist für mich der eigentliche Skandal. Unsere Nachfahren werden nur mit dem Kopf schütteln.
(10) Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass die Alternative für Deutschland auf einem guten Wege ist – bei allen Irritationen, Häutungen, Befindlichkeiten, Empfindlichkeiten und Befremdungen, denen eine junge Partei ausgesetzt ist. Die AfD richtet ihre Politik – im Gegensatz zu den etablierten Parteien – an der Lebenswirklichkeit aus. Die drei programmatischen Schwerpunkten der AfD sind:
– die Orientierung an der Familie,
– die ordoliberale Wirtschaftsordnung,
– die patriotische Haltung.
Die interessierte Öffentlichkeit gewinnt inzwischen den Eindruck, dass das ordoliberale Programm, das für das ursprüngliche Konzept der Sozialen Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards, Walter Euckens und Alfred Müller Armacks steht, zurückgedrängt werde. Ich glaube, dass dieser Eindruck falsch ist. Es wäre auch verhängnisvoll, wenn es so sein sollte. Denn dieser Programmpunkt ist für die mittelständische Wirtschaft von zentraler Bedeutung. Die Verbindung dieser drei Programmschwerpunkte macht uns auch für breite Wählerschichten attraktiv: Die Freiheit des Wirtschaftens in einer Wettbewerbsordnung schafft individuellen Wohlstand und auch die Voraussetzung, um sozial sein zu können; Familien sind die Keimzelle und der Garant für eine lebenswerte Welt; Patriotismus als die Liebe zum Vaterland weckt Verständnis und Aufgeschlossenheit für andere Völker und Länder; nur wer zu sich selbst und zu seinem Vaterland ein unverkrampftes Verhältnis hat, wird Menschen aus anderen Ländern mit Fairness und Vertrauen begegnen. Ich bin sicher, dass wir mit einer solchen Einstellung auf dem Weg zu einer lebendigen Volkspartei sind. Die künftigen Wahlergebnisse werden das bestätigen.
Das wünsche ich gerade den jüngeren Mitgliedern in unserer Partei, die bald das Gesicht der „Alternative für Deutschland“ prägen und damit zum Wohle ihrer Heimat, ihres Vaterlandes und nicht zuletzt zum Wohle Europas beitragen.
In diesem Sinne bin ich
mit herzlichen Grüßen
Ihr Joachim Starbatty